DER
REPUBLIKFLÜCHTLING
LESEPROBE
Auf
der Rückfahrt zum Hotel war es still im Wagen, denn die
Erinnerungen hielten Oles Gedanken gefangen. Diesen Weg hatte er
auch damals auf seiner Flucht in der Nacht mit dem Fahrrad genommen,
und heute ließ er sich hier auf derselben Straße in einer
Luxuskarosse chauffieren. Tausend Dinge gingen ihm wieder und wieder
durch den Kopf, doch er bemühte sich, seine Empfindungen zu
beherrschen. Sie kamen an die Stelle, wo er sich damals als
Siebzehnjähriger in die Spree gleiten ließ, um nach Westberlin zu
flüchten, und ließ den Fahrer halten.
„Halt
hier Grenze“, sagte der spontan, ein wenig scherzhaft,
ironisch.
Ole
schwieg eine Weile, wobei er stumm durch die Windschutzscheibe aufs
andere Ufer starrte. Wieder sah er im Geiste die Scheinwerfer über
das Wasser gleiten und wieder, wie sie ihn ins Visier nahmen. Hatte
man ihn damals überhaupt angerufen, oder hörte er gleich die
Maschinengewehre und wie die Geschosse um ihn herum einschlugen bis
eins seine Schulter traf und gleich darauf eins seinen Kopf
streifte? Und wieder war da der kurze Schmerz, denn gleich danach
hatte er die Besinnung verloren. – Obwohl er es schon
herausgefunden hatte, fragte Ole monoton:
„Ossi
oder Wessi“, wobei er mit dem Finger auf den Fahrer zeigte, ohne
ihn dabei anzusehen.
„Ossi“,
antwortete er mit einem leichten Grinsen, weil sein amerikanischer
Gast diese Bezeichnungen benutzte. Der ist ein paar Jahre älter und
könnte theoretisch damals auch ein Grenzschütze gewesen sein, überlegte
Ole ruhig, und dann fragte er in reinem Deutsch:
„Hier
sind die Flüchtlinge rüber nach Westen geflohen?“
„Ja,
hier haben sie es auch versucht.“
„Was
waren das für Leute and warum?“, versuchte Ole die Einstellung
des Fahrers zu ergründen.
„Kriminelle,
Deserteure, die wohl keine Lust zum Arbeiten hatten, Republikflüchtlinge
eben.“
„Alle?“
„Na
ja, warum sollten sie sonst die DDR verlassen.“
„Dann
habt ihr auf sie einfach geschossen?“
„Ja,
das waren ja Republikflüchtlinge, Staatsfeinde eben“.
„Warum?
Warum habt ihr die Staatsfeinde nicht einfach laufen lassen?“
Keine
Antwort. Der Fahrer wusste es nicht. Wie sollte er heute die
kommunistischen Argumente für Republikflucht erklären. Diese Form
von Konversation wurde ihm äußerst unangenehm und dann:
„Weiß
nicht.“
„Warum
habt ihr sie einfach tot geschossen, warum? Komm, sag es!“
Ole
kochte, weil er merkte, dass neben ihm einer von denen saß, die er
zu tiefst hasste und bedrängte ihn weiter:
„Du
hast auch geschossen, was?“
„Nein,
ich nicht“.
„Nein,
ich nicht - nein, ich nicht, immer nur die anderen!“
Wieder
keine Antwort. Dem Fahrer wurde diese Fragerei immer unangenehmer
und überlegte, wie er diese Konversation beenden könnte. Hätte er
sich doch nur nicht diesen, anfangs so netten Amerikanern, geoutet.
Oles ganze Wut richtete sich jetzt stellvertretend gegen diesen Mann
für alles, was man ihm damals angetan hatte. Unterschwellig machte
er ihn dafür verantwortlich, dass die Mutter gestorben war, bevor
Ole sie noch einmal in den Arm nehmen konnte und ihr alles sagen
konnte, was ihn die vielen Jahre bewegte. Nach einer Weile
angespannter Ruhe im Wagen zischte Ole den Fahrer an:
„Komm,
steig aus!“.
Der
stieg aus, während Ole langsam seine Tür öffnete und vor den
Wagen trat. Er zog seine Jacke aus, warf sie auf die Motorhaube,
dann seine Krawatte. Er knöpfte sein Hemd auf, zog es aus und
zeigte ihm die Narbe auf dem Rücken, wobei er in der anderen Hand
das Hemd hielt und den Kutscher dabei anbrüllte:
„Hier,
das wart ihr erbärmlichen Kommunistenschweine. Genau hier im Wasser
wolltet ihr mich umbringen. Und du Blindfisch hättest mit
Sicherheit auch geschossen oder hast es sogar getan. Ihr seid doch
alles Arschlöcher und bleibt unverbesserliche, faule
Kommunistenarschlöcher. Was habt ihr mit meiner Heimat und
den Menschen hier gemacht? Ihr Wichser!“
Oh,
ein ehemaliger Landsmann! Der Fahrer war geschockt und wollte noch
was sagen.
„Halts
Maul!“ Herrschte Ole ihn an und „zum Hotel“, wobei er sein
Hemd wieder anzog und in die Hose steckte. Seine Krawatte knotete er
während der Fahrt wieder zurecht. Funkstille. Dann drehte Ole sich
zu den beiden im Fond um. Walter blickte wie erstarrt, Joe sah ihm
in die Augen und schmunzelte. Er kannte Ole zu gut, er kannte auch
seine Geschichte und wusste, dass er sich normalerweise nicht
wirklich aufregte, aber heute? Ihm schienen der heutige Tag und der
Tod seiner Mutter wirklich sehr nahe gegangen zu sein.
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